Interview – Priscilla Schrag (42)

Seit wann hast du Alopecia? Welche Form hast du?

Ich habe Alopecia Universalis seit Dezember 2012. Der Haarausfall begann im Dezember 2012, im Juli 2013 wurde die definitive Alopecia Universalis diagnostiziert.

Was war dein bisher negativstes Erlebnis mit deiner Alopecia?

Ich war mit meinen Söhnen auf dem Campingplatz und eines Tages gingen wir an den Fischerteich in der Nähe. Auf dem Campingplatz trug ich die Perücke aber als wir an diesem abgelegenen See waren, nahm ich die Perücke ab. Während wir gemütlich auf der Bank sassen und unsere Zeit zusammen genossen, fuhr gerade ein älteres Ehepaar mit einem Boot an uns vorbei. Die ältere Frau sah mich missbilligend an und sagte so laut, dass ich es hörte: «Ein solches Auftreten sollte verboten sein.»

Was war dein bisher positivstes Ereignis mit deiner Alopecia?

Es gab diesen Moment im Kochkurs mit Freunden. Ich musste Spaghetti flambieren und dachten im selben Augenblick: «Was wenn meine Perücke Feuer fängt?» In einem Akt der Spontanität habe ich mit einer Hand die Spaghetti flambiert und mit der andern meine Perücke weggeschmissen. Es war wie ein Befreiungsschlag. Seit diesem Moment ist sehr viel mit mir passiert – im positiven Sinne

Glaubst du, dass deine Alopecia eines Tages nicht mehr da sein wird?

Darüber will ich mir keine Gedanken mehr machen. So wie es jetzt ist, ist es in Ordnung. Wenn die Haare eines Tages wiederkommen sollten, wäre das schön aber es wäre auch nicht schlimm, wenn dieser Fall nicht mehr eintreffen würde.

Wenn deine Alopecia eine Person wäre, was würdest du ihr sagen?

Nimm mich so wie ich bin! Warum muss ich mich die ganze Zeit an dich anpassen? Warum passt du dich nicht einmal an mich und meine Bedürfnisse an?

Priscillas Geschichte

An einem grauen Sonntag im November traf ich Priscilla für Prosecco und einem sehr leckeren und ausgedehnten Aperò. Mit dabei war ihre gute Freundin Margit. Margit kenne ich ebenfalls schon von dem allerersten Alopecia Treffen, welches im Appenzell stattgefunden hat. Margit ist immer mit von der Partie und so wurde sie für Priscilla über all die Jahre eine grosse Unterstützerin. Es hätte aber ihre Zeit gebraucht bis die zwei so offen darüber reden konnten. Warum das so ist, erzählte sie mir später…
 
Wir nahmen an der langen Holzbank in Priscillas Wohnzimmer Platz und ich erkundigte mich nach ihrem Wochenende, welches sie in Stuttgart verbrachte. Schon «fütterte» sie mich bereits mit der ersten Alopecia-Geschichte. In einer Bar zeigte ein Mann reges Interesse für Priscilla. Da dieses Interesse aber nur einseitig existierte und der Mann nach mehrmaligen Ablehnung nicht lockerliess, wusste sich Priscilla nicht anders zu helfen: Sie zog ihre Perücke aus! Sie dachte sich: «Dann wird er sicher kein Interesse mehr an mir haben.» So war es dann für sie auch – zum Glück! Denn er suchte endlich das Weite. Priscilla hatte mit dieser Aktion aber das Interesse des Barkeepers geweckt, der ihr von der Ferne mit beiden Daumen nach oben signalisierte, dass er diese Aktion echt stark fand! Später kam er zu ihr und ihren Begleiterinnen vorbei und am darauffolgenden Tag spendierten Freunde des Barkeepers der lustigen Frauenrunde eine Runde am Weihnachtsmarkt in Stuttgart. Es ist oft so mit der Alopecia… Man vertreibt die, die man nicht haben will und zieht die an, die einen so nehmen wie man ist.
 
Nach dieser lustigen Anekdote richtete ich mich mit Notizbuch, Laptop und Diktiergerät ein und überliess das Reden Priscilla. Margit animierte sie mit weiteren Geschichten und war einfach nur für Priscilla da. Priscilla erzählte mir, dass ihr Haarausfall sich im Dezember vor vier Jahren bemerkbar machte. Drei Monate nach ihrer Scheidung. Erst schrieb sie den Haarausfall der stressigen und belastenden Situation zu. Sie machte sich keine Gedanken. Ihr erster Gang sei der Coiffeur gewesen, der sie mit Shampoo und x-Pflegen eindeckte. Und was später erhielt sie die gut gemeinten rate in der Apotheke die sie von Burgerstein bis zu Priorin ausstattete. Sie probierte sich da durch. Im darauffolgenden Januar schrieb sie es noch immer dem Stress zu und ging aber doch zum Arzt, der bei ihr ein diffuser Haarausfall in ihre Akte schrieb. Freunde von ihr erwogen noch eine frühe Abänderung oder sonstige hormonelle Veränderungen. Der Arzt machte einen Test und stellte Eisen-, Vitamin B und Vitamin D Mangel fest. Eisen wurde intravenös eingeflösst. Die Vitamine über sechs Wochen lang, einmal die Woche gespritzt. Es stellte sich keine Besserung ein. Dann tritt eine schwierige Phase ein. Sie probierte mit ihren Freunden darüber zu reden. Alle besänftigten sie, dass man doch nichts sehe und dass sich das schon wieder einpendeln würde. Zum x-ten Mal ging sie ins Ärztezentrum, wo man sie das Ganze rein psychischen Ursachen zuschrieb. Man drückte ihr regelrecht einen Stempel auf.
 
Mit einem androgenen Haarspray entschied sie sich dann für diesen mühsamen Weg. Sie bezweifelte die Wirkung, da sie nicht an einem gewöhnlichen kreisrunden Haarausfall litt sondern an einem Haarausfall, der sich über den ganzen Kopf erstreckte und langsam aber sicher ihr Haar lichtete. Priscilla arbeitet im Gastgewerbe und trägt heute eine Perücke. Auch erzählte sie von ihrem Problem im Geschäft und bekam gute Unterstützung von den Arbeitskollegen. Es ging ihr eigentlich immer gut, Bis sie, wie sie mir sagt, nachdem sie erst alle Kopfhaare verloren hatte, verlor Sie Wochen später auch die Augenbrauen und die Wimpern, somit ihr ganzes Gesicht. Damit fühlte sie sich charakterlos und das war ein herber Schlag für sie. Langsam aber sicher redete sie mit vertrauten Stammgästen des Restaurants in welchem sie arbeitete darüber. Ein Gast schaute sich mit ihr alle Organe an, die für die Ursache des Haarausfalls verantwortlich sein könnten. Er riet ihr zu diversen Blutproben um die Laborwerte deutlich zu sehen, von den Schilddrüsen über alle Hormone etc. wurde alles untersucht. Das Aerztezentrum sah das noch zu verfrüht, doch Priscilla bestand darauf. Nach den Ergebnissen war der Gang zum Dermatologen unvermeidlich, da alles werte bestens waren. Sie erzählte mir, dass sich dann der Bammel wegen dem Warten einsetzte. Da sie spürte wie die Zeit davon lief und ihre restlichen Haare auch. So ging sie aus der damaligen Arztpraxis raus, direkt zur Dermatologischen Praxis welche ein paar Strassen weiter war, die Ärztin stand zufälligerweise gerade an der Theke. Sie nahm Priscilla ernst und vereinbarte gleich am nächsten Tag einen Termin. Sie macht mit ihr eine Kopfhausanalyse und man wusste dann Bescheid: Es ist Alopecia. Das was bisher nie in den Akten stand, war nun beschlossene Sache. Das Kind hatte im Juni 2013 endlich einen Namen.
 
Im Herbst wurde Sie dann im Unispital Zürich untersucht, und man entschied sich die DCP Therapie im Dezember 2013 anzufangen. In diesen Monaten als alles anfing war ihr soziales Leben nicht mehr das selbe, was es einmal war. Weil sie sich von ihren Freunden verlassen und missverstanden fühlte, wendete sie sich von ihnen ab. Sie sei nur noch zu Hause gewesen, erzählte sie mir. Wenn sie unter Menschen war, hatte sie das grosse Bedürfnis über ihren Haarausfall zu reden. Jedoch hatte sie das Gefühl, dass sie so eine Belästigung für die andern darstellte. Heute ist ihr bewusst, dass ihr Umfeld sie gar nicht verstehen konnte. Wenn nicht mal die Ärzte ihr Problem ernst nahmen – warum sollten dies ihre Freunde tun?
 
Bei der DCP Therapie hatte sie ein gutes Gefühl, doch die Freude war verfrüht. Nachdem man über Monate an der richtigen Dosis getüftelt hatte, war der Moment gekommen, als sie es einsetzten konnte. Die Dosis schien in der Testphase gut zu sein aber wenige Tage später verbrannte es ihr die ganze Kopfhaut und Brandwasser lief nur noch über ihren Kopf hinunter. Worüber sie dabei am meisten enttäuscht war, dass vor ihr immer ein anderer Arzt sass, und immer wieder von vorne anfing. Sie hatte grossen Frust und viel Unmut in sich. Animiert von Magrit, die in der Pflege arbeitet, machte sie ihrem Frust Luft und schrieb die obersten Instanzen des Unispitals an. Zwei renommierte Professoren nahmen sich daraufhin der Lage an. Stosstherapie und Kortison wurde ihr verschrieben, worauf die Haare anfingen zu wachsen. An Weihnachten 2014 hätte sie sogar wirklich wieder eine Frisur gehabt.
 
Die Freude hielt aber wie so oft nicht lange. Einer der beiden Professoren sagten ihr, dass diese Krankheit nun mal wie Wellenreiten sei. Doch am 6. Januar 2015 hatte sie genug. Man bot Ihr zwei neue Therapien an. Jedoch war das für Priscilla keine Option mehr. Und beendete sämtliche Therapien im Unispital. Statt dass sie darüber enttäuscht war, dass nichts funktionierte, passierte mit ihr etwas, dass mir persönlich sehr bekannt vorkommt: Mit ihrer Psyche ging es bergauf. Es war in Ordnung. Es war okay. Und dann kam der Moment mit dem Kochkurs. Magrit war dabei und fügte hinzu, dass die Leute sogar applaudiert hätten. Ich fragte sie: «Hat sich damals so etwas wie Frieden eingestellt?« Sie bejahte. Und dieses Gefühl hält bis jetzt an. In den Sommerferien 2015 trug sie die Perücke praktisch nie. Sie fügte noch hinzu: Wenn jemand nun kommen würde und sie fragen würde: «Wärst du mit Haaren glücklicher?» Dann wisse sie nicht was sie antworten soll. Sie könne nicht sagen, ob sie jetzt oder im hypothetischen Fall mit Haaren glücklicher sei.
 
Es ist auch immer unheimlich spannend was mit dem Umfeld einer Alopeciabetroffenen passiert. Priscillas jüngerer Sohn, konnte ihr lange nicht über den Kopf streichen. Auch kam er auf einmal nicht mehr mit seinen Freunden nach Hause. Heute sei das anders und er nehme «Gott sei Dank» wieder Freunde nach Hause, nicht alle, aber sie weiss er stehe zu seiner Mama, die halt nun mal was anders ist. Priscilla erhob sich vom Tisch und füllte die leeren Teller nach. In dieser kurzen Pause sass Magrit sehr in sich gekehrt am Tisch und meinte: «Ja es war extrem…» Priscilla kam wieder aus der Küche und meinte lächelnd: «Es sei euch verziehen» Man hätte sich ausgesprochen. Priscilla macht mir auch den Eindruck, als bereue sie nichts. Man lerne viel über die Menschen. Die, die nicht mehr hier sein sollen werden gestrichen und dann gibt es auch andere, die sich erst lange ruhig verhalten und plötzlich wieder da sind und genau diese seien dann eine grosse Unterstützung. Sie ist unsagbar dankbar, dass es diese Menschen und Freunde gibt, sie sind nicht mehr weg zu denken. Man lerne auch darüber zu lachen. Dazu haben mir die beiden eine schöne Geschichte: Magrit und Priscilla waren kurz nach Priscillas persönlichen Befreiungsschlag zusammen mit andern Freundinnen in Berlin. Sie liessen es sich natürlich nicht nehmen und gingen auf diese Doppeldecker, die ein offenes Dach haben, damit man die Stadt noch intensiver bewundern kann. In der Lindenallee hatte Priscilla immer Glück und stoss sich nie an den Ästen, die auf Kopfhöhe hingen. Es ging aber nicht lange, bis die Freundin fast von einem Ast erschlagen wurde. Die Freundin meinte: «Zum Glück ist das nicht dir passiert Priscilla!» Sie erklärte, dass man sich die Situationskomik vorstellen müsste: Priscilla geht runter zum Busfahrer und würde ihn bitten anzuhalten. Mit der Begründung, dass ihre Haare in den Linden hängen würden. Diese Szene sei der Running-Gag für den ganzen restlichen Aufenthalt gewesen.

Später seien die beiden mal in London gewesen und als ihre Perücke in einem überfüllten Pub ganz fürchterlich juckte. Da konnte sie nicht anders, als ihre Haare ausziehen. Der Herr neben ihr hätte sich fast an seinem Bier verschluckt.
 
Schritt für Schritt hätte Priscilla sich ihre Freiheit zurückgewonnen und zeigt sich in Freundeskreisen nun oft ohne Haare. Sie sensibilisierte so auch ihr Umfeld. Margit erzählte dazu, dass sie nun auf der Strasse sehr oft Frauen erkenne, die Alopcia hätten. Auch wenn sie gerade eine Perücke trugen. Früher sei ihr das nie aufgefallen. Nun wo, sie über dieses Thema Bescheid wusste, sei sie sensibler und betrachtet die Menschen auf der Strasse ganz anders. Priscilla hat auch eine Art und Weise gefunden sich selbst zu therapieren. Sie meldete sich bei der Theatergesellschaft an und erklärte, dass die Erfahrung dort, in die verschiedenen Rollen zu schlüpfen, der Austausch mit jungen und älteren Leute ihr viel gegeben haben.
Das Schminken und mit Perücken Menschen zu verändern, mit Händen Haare zu berühren.
Bereitet immer wieder Freude und eine grosse Genugtuung.
 
Irgendwann einmal hatte sie Fragerei, ob sie Krebs habe so satt, dass sie das erste Mal ein Bild auf Facebook postete ohne Haare. Die Reaktion der Leute sei umwerfend und sehr stärkend für Priscilla gewesen. Ich denke auch, dass sie mehr und mehr realisierte, dass sie so ist wie sie ist. Auf die Frage, was ihr negativstes Erlebnis gewesen sei und sie mir die Geschichte am See beim Campingplatz erzählte, ärgerte sie sich über zwei Dinge: Erstens, dass man sich in der Gesellschaft nicht so zeigen dürfe, wie man sich am wohlsten fühle in der heutigen Zeit und zweitens stellte sie sich folgende Frage: Ist der Frau klar, dass diese Aussage noch viel verletzender für eine Frau mit Krebs gewesen wäre? Das hat uns alle sehr nachdenklich gestimmt…
 
Die Augenbrauen und Wimpern sind auch oft ein Thema. Wie bereits erwähnt, war es für Priscilla so, als hätte sie ihr Gesicht verloren. Ihr Chef bei der Arbeit empfahl ihr zum permanent Make-up. Sie entschied sich dann zum Microblading so als einstieg. Als sie dort war, verliess sie nach der Tätowierung das Studio mit Tränen. Sie war wütend über sich selbst. Die Kosmetikerin sei über diese Reaktion sehr überrascht gewesen da sie fand, dass sie es sehr gut hinbekommen habe. Aber Priscilla erkannte sich im Spiegel nicht mehr, sie musste sich schon wieder daran gewöhnen, anders aus zu sehen. Warum kann mein Körper , Alopecia sich nicht einmal mir anpassen, warum immer ich, warum machst Du das mit mir?! Eine Woche später rief Priscilla die Frau an und erklärte ihr die Situation. Die Kosmetikerin verstand sie dann auch. Auch ist man sich nicht bewusst welch Schutz Funktion die Wimpern haben. Es komme oft bei der Arbeit vor, wenn ihre Augen müde oder überlastet sind, dass sie wie Feuer brennen. Die Brille helfe nun ein wenig, aber dass man sich auch noch darum kümmern muss, ist einfach unfair.
 
Priscilla und Margit haben sich über die Jahre hinweg oft darüber unterhalten, dass es für alle Krankheiten und Leiden eine Organisation in der Schweiz gebe. Warum nicht über Alopecia? Margit, die in der Pflege arbeitet liegt noch ein anderes Thema schwer im Magen: Die Krankenkassen, die dieses Problem nicht anerkennen und wenig bis gar keine Kosten übernehmen. Priscilla musste sich einst schwer mit der Bürokratie der Krankenkasse auseinandersetzen und ihre Alopecia nachweisen. Zu der Krankheit stehen ist eine Sache aber sie auch noch nachweisen zu müssen, kann für niemanden einfach sein…
 
Es ist Zeit und Magrit muss aufbrechen. Die beiden umarmen sich kurz, klären ihre kommenden Daten ab und als sich Margit abwenden will, hält Priscilla sie zurück. Fest drückte sie ihre Freundin nochmals fest an sich. Dies mitanzusehen, zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen. Zu sehen, wie jemand mit Alopecia lebt, sehen, wie man sich dadurch auch weiterentwickeln kann ist wundervoll. Aber dann noch zu sehen, dass diese Krankheit es schafft Freundschaften zu stärken, gab mir ein sehr wohliges und befriedigendes Gefühl. Ich wünsche mir sehr, dass jede und jeder Betroffene diese beglückende Erfahrung erleben darf.

Zum Abschluss – Was würdest du künftigen Alopecia Patienten raten, Priscilla?

Hör auf dich selbst und geh nur den Weg, dem Du selbst vertrauen kannst! Hör auf die Ärzte, die dir guttun und auf welche Du vertrauen kannst, entscheide selbst was Dir guttut und was nicht und wie weit Du gehen kannst. Wenn ich immer nur auf die Ärzte gehört hätte, wäre ich immer noch bei ihnen, würde darauf warten, dass was passiert und wäre von der Akzeptanz weit entfernt. Auch wünsche ich ihnen Kraft und Mut, ein Umfeld welches Sie in dessen Zeit trägt. Ich selbst sehe mit Weinenden und lachenden Augen auf die Zeit zurück – Man kann eine neue Freiheit finden und glücklich sein mit Alopecia.