Interview Laura Knezevic (25)

Seit wann hast du Alopecia? Welche Form hast du?

Seit ich 11 Jahre alt bin habe ich Alopecia Areata. Also seit 14 Jahren. Mehr als die Hälfte von meinem Leben.

Was war dein bisher negativstes Erlebnis mit deiner Alopecia?

Ich glaube, wenn man so lange Alopecia hat gibt es kein spezifisches Ereignis mehr. Über all die Jahre gab es aber zwei Dinge, die mich bis heute wütend oder traurig machen: Erstens wenn sich andere Menschen erlauben ein Urteil über dich zu fällen und zweitens wenn sie sich erlauben für dich zu sprechen oder das Gefühl haben sie müssten für dich eine Diagnose stellen. Ich glaube die zweiten meinen es primär wohlwollend aber es kann für den inneren Heilungsprozess sehr anstrengend werden, wenn du deinem Umfeld immer wieder klar machen musst, dass du dich eigentlich in Ordnung findest so wie du bist. Es gibt Leute wie meine Familie und meine engsten Freunden auf deren Meinung ich sehr viel gebe aber andere haben da einfach kein Mitspracherecht und ich habe leider viel zu lange auf diese Leute gehört.

Was war dein bisher positivstes Ereignis mit deiner Alopecia?

Ich glaube das war das ganze letzte Jahr für mich. Ich habe mal das «Was wäre wenn…» Spiel mit der Alopecia durchgemacht. Was wäre, wenn ich keine Alopecia gehabt hätte? Ich hätte glaube ich keine Weltreise gemacht. Ich hätte AA Schweiz, Romina und all die andern tollen Frauen nicht kennengelernt und ich hätte nicht so schöne Begegnungen durch das Schreiben erlebt.

Glaubst du, dass deine Alopecia eines Tages nicht mehr da sein wird?

Ganz ehrlich? Ich glaube nicht… Obwohl, das für viele Betroffene sehr ernüchternd ist zu lesen. Aber ich habe so viele Sachen ausprobiert. Höhen und Tiefen erlebt damit aber keine beständige Lösung war in Sicht. Ich muss aber auch sagen, dass mich dieser Gedanke nicht mehr erschreckt. Ich wäre sehr offen dafür, wenn mich jemand eines andern belehrt oder diese Haare auf dem Kopf doch mal wieder gleichmässig und überall spriessen sollten aber sagen wir es mal so: Ich warte definitiv nicht mehr darauf.

Wenn deine Alopecia eine Person wäre, was würdest du ihr sagen?

Ich würde ihr gegenüber stehen. Sie lange ansehen. Mich entschuldigen, dass ich sie für so vieles verantwortlich gemacht habe und sie dann lange umarmen und ihr «Danke» sagen. Das klingt sehr kitschig und ich will überhaupt nicht verherrlichen oder beschönigen. Jedoch hat sich in mir ein grosser Frieden eingestellt, als ich nicht mehr über die Tatsache wütend war, dass ich auf dem Kopf keine Haare mehr habe. Ich habe dann angefangen zu sehen, was ich in all den Jahren gelernt habe und was mir an Lebenserfahrung und Reife entgangen wäre. Und dies will ich um nichts missen.

Lauras Geschichte

Sehr genau kann ich mich noch daran erinnern, als meine Mutter im Sommer 2002 die Haare trocknete als sie die erste kahle Stelle entdeckte. Wir dachten uns nicht dabei, da mein Vater zwei Jahre zuvor mehrere Monate eine grossen Kahlstelle am Kopf hatte. Der Kinderarzt meinte: «Vererbt». Das legt sich wieder. Doch es legte sich nicht. Bis Winter 2003 verschwanden alle Haare am Hinterkopf. Meine Mutter ging wöchentlich mit mir zu einem Dermatologen und mir wurde Zink, Kortison und Lichttherapie verordnet. Machmal auch noch ein Gel oder eine Tinktur zum drauf. Meine Mutter versuchte alles. Sie war ein Engel, der Fels in der Brandung und ist es noch immer. Sie las viel, schickte Haar und Blutproben ein. Ich habe mir gar nie Sorgen gemacht, da sie alles für mich tat und sehr optimistisch an die Sache ging. Es kam mir alles so unwirklich vor. Doch eines Tages kam der Gedanke, das erste Mal: «Was wenn es nicht wieder wird?» Zur gleichen Zeit musste ich für die Sekundarschule die Schule wechseln, da das Dorf in dem ich aufwuchs keine eigene Sekundarschule hat. Ich kam an und es fühlte sich an wie die Hölle auf Erden mit meinen neuen Mitschülern. Dass ich nicht dazugehörte war eine Sache und die störte mich praktisch nicht. Was aber viel schlimmer war, war, dass sie überaus gemein waren. Ich kam jeden Tag weinend nach Hause. Meine Mutter ertrug das nicht mehr und sie, die nie eine Befürworterin von Selbstmitleid war, animierte mich dazu etwas zu tun. So stand ich eines Nachmittags vor der Klasse und machte ihnen klar, wie verletzten alles für mich war. Noch heute höre ich, wie ich sage: «Ich will nicht eure Freundin werden. Ich will nur, dass ihr mich in Ruhe lässt – bitte!»
Das war der Moment als ich realisiert, dass die Alopecia nun ein Teil meiner Identität war. Sie hat mich gelehrt, dass man nicht alles mit sich machen lassen darf. Fortan ging es besser mit meinen Mitschülern und drei Jahre liefen einfach weiter. Meine Mutter häkelte Käppchen, denn eine Perücke kam für mich schon damals nicht in Frage aber so nackt wollte ich auch nicht durch die Welt gehen. Im Frühling 2006 fing ich mit Homöopathie an und die Deckhaare kamen so zurück. So war es mir bis zum Schulwechseln in die Mittelschule möglich die Frisuren so zu richten, dass man die kahlen Stellen am Hinterkopf gar nicht sieht. So ging es all die Jahre weiter. Ich verlor nie wieder so viel Haare, wie in der Pubertät und konnte den Haarausfall gut verstecken. Praktisch niemand von meinen neuen Mitschülern wussten von der Alopecia. So ging es auch weiter als ich 2010 das Studium an der Pädagogischen Hochschule in Zürich aufnahm. Kleine Löcher hie und da mich mich fast gar nicht störten und die kamen und gingen. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich eines Tages wieder alle Haare haben werde.

Als das Studium zu Ende war ging ich nach Florida in die Ferien und dort viel mir auf, dass die Haare an den Seiten, das erste Mal seit Jahren wieder ausfielen. Erst dachte ich – wie viele mir auch geraten haben – das sei nur der Stress, weil das Studium nun zu Ende sei und ich das erste Mal arbeiten würde. Doch im darauffolgenden Winter war es nicht mehr zu verstecken. Ich war wieder in der selben Situation, wie 10 Jahre zuvor. In diesem sehr schmerzhaften Moment hielt ich ein Moment inne und fragte mich: «Was würdest du am liebsten tun?» So entschloss ich mich den Kopf zu rasieren und die wenig verbleibenden Haare abzuscheiden. Mit meiner besten Freundin ging ich zu einem befreundeten Coiffeur und ohne, dass ich etwas sagen musste, stand der Rasierapparat schon bereit. Ich bestand darauf 25.- zu zahlen und ging aus dem Studio und zum ersten Mal spürte ich auf meiner gesamten Kopfhaut der wundervolle Gefühl der Sonne.

In dem Moment war ich überglücklich. Kein Versteckspiel mehr. Kein aufwendiges Frisieren mit Pulver und Hairspry und Gel. Ich war so wie ich bin. Nur machte ich einen kleinen Fehler: Ich trug trotz der neugewonnenen Freiheit Kopftücher. Im Nachhinein betrachtet muss ich sagen, dass ich zwar das tat, was mir mein Körpergefühl sagte, ich aber trotzdem probierte meinem Umfeld gerecht zu werden. Man könne nicht mit Glatze mit Kindern arbeiten. Und was sollen die Eltern bloß denken? Jeder meine doch ich hätte Krebs.

Mit dem Abrasieren habe ich aber die Hoffnung für eine Besserung nicht aufgegeben und machte die beiden schmerzhaftesten Therapien durch: DCP und Kortisonspritzen. Beides versuchte ich mehrere Monate lang bis ich aufgab. Die Haare kamen und fielen wieder aus. Das war der Punkt an dem ich sagte: «Aufhören» und das meinte ich mit allem. Nie in all den Jahren fügte mir die Alopecia Schmerzen zu. Und nun kamen nach den psychischen Schmerzen auch noch physische Schmerzen hinzu. Ich war mit meiner Kraft am Ende. Und so entschloss ich meinen Job zu künden und auf Weltreise zu gehen.
Letztes Jahr im Sommer war es dann so weit! 6 Monate mit 4 Stationen: New York City, Fiji, Australien und Südafrika. Ich legte die Kopftücher ab, nahm nicht eine Vitamintablette mit und ging. Es war ein Freiheitsgefühl, wie man es mit Worten nicht beschreiben kann. In NYC konnte ich sowieso so herumlaufen, da laufen noch ganz andere Vögel herum. Ich besuchte eine Sprachschule und traf tolle Leute. Eines Tages unterhielt ich mich mit meiner Englischlehrerin über Schönheitsideale und sie erzählte mir eine sehr interessante Geschichte:
In ihrem Heimatstadt in Louisiana galt es für Afroamerikanische Frauen als hässlich, wenn sie keine glatten Haare hatten. Zu sehr erinnerte diese Tatsache an die Geschichte der Sklaverei. So glätten sich viele Frauen dort ihre Haare chemisch. Die erste Woche fühlst du dich grossartig und gehst auf Dates. Die zweite Wochen fangen die Haare wieder an zu wellen und du fühlst dich unwohl und in der dritten Woche willst du nur noch auf den Termin warten. Sie bezeichnete es als das «Drei-Wochen-Gefängnis». Mir fiel auf, dass ich in einem «Fünf-Tage-Gefängnis» lebte. Am ersten Tag, wenn ich mir den Kopf rasiert habe, fühle ich mich toll. Ich könnte nämlich eine Frau sein, die sich dazu entschlossen hat so durch die Welt zu laufen. Jedoch ab dem zweiten Tag sieht man bei mir die dunklen Stellen ,wo die Haare noch immer wachsen und ich rasiere sie dann wieder am fünften Tag.

Der Tapetenwechsel in NYC tat mehr als gut und ich war richtig energetisch aufgetankt und mich dem traditionellen und konservativen Fiji «zu stellen». Es ging aber schnell und die herzlichen Einwohner des fijianischen Dorfs haben schnell gelernt, dass halt Frauen in Europa so herumlaufen, wie sie nunmal wollen. Dort habe ich auf gelernt, dass auf die „blöden Blicke“ es eine sehr entwaffnende Waffe gibt: Lächeln. Sobald man jemand sieht, der dich anschaut: lächeln und alles ist nur noch halb so wild. Mit dem Betreten des australischen Kontinents verliess mich das Bedürfnis den Kopf zu rasieren. Ich wollte nicht mehr nicht auffallen. Ich wollte mich so zeigen, wie ich war. Denn noch immer gab es Stellen am Kopf die munter weiter wuchsen. Und siehe da: Fast auf dem gesamten Kopf kamen auch die Haare wieder. Als ich Australien zum Jahreswechsel verliess hatte ich fast überall 4cm lange Haare.

Obwohl Südafrika der absolute Höhepunkt meiner Reise war, merkte ich, wie die Haare kurz vor der Ankunft wieder anfingen sich zu verabschieden. Ich ermahnte mich ruhig zu bleiben aber auf der andern Seite war ich fast froh, dass sie bereits auf der Reise wieder ausfielen. Ich hatte nämlich Angst davor nach Hause zu kommen und mir von andern anhören zu müssen, dass ich in den sechs Monaten halt sehr stressfrei und fröhlich und einfach in den Tag hineingelebt habe und das das der entscheidende Punkt der Genesung sei. Dabei wollte ich wieder in dieses Leben mit Beruf und Tagesstrukturen zurückkommen und nicht nur wegen den Haaren wie ein Nomade leben.
Wie vermutet habe ich wieder den Grossteil meiner Haare zwei Monate nach der Rückkehr von meiner Reise wieder verloren. Doch dieses Mal schwor ich mir, dass ich ohne Kopftuch herumlaufen würde. Und seit Mai 2016 kennen mich alle nur noch mit Glatze. Ich habe im Laufe der Zeit gelernt, dass man sich auch oft viel zu viele Gedanken macht, was andere über einen denken. Kürzlich war ich mit Flüchtlingen an einem Fonduessen. Bisher hatten mich die jungen Männer aus mehrheitlich islamischen Staaten nur mit Wintermütze gekannt, da wir viele Aktivitäten draussen gemacht haben. Ich war unsicher, wie diese es aufnehmen, doch es stellte sich heraus, dass nicht einer ein Problem damit hatte oder sich durch meine Anwesenheit unwohl fühlte. Ich muss auch sagen, dass ich durch zwei Sachen klar im Vorteil bin: Erstens habe ich nie wirklich Augenbrauen und Wimpern verloren und zweitens arbeite ich auf einem sozialen Beruf. Da muss man sich weniger darum scheren, wie man aussieht. Kinder nehmen einen sowieso so wie man nunmal ist.

Obwohl ich mit der Glatze einen guten Umgang gefunden habe, trauerte ich im Frühling 2016 meinen Haaren hinterher. Ich sage immer, es wär als hätte ich einen Schlitten voller Weihnachtsgeschenke vorfahren sehen und nun zieht er weiter ohne mir was da zu lassen. Von diesem Verlustschmerz animiert, googelte ich im Internet mal wieder nach Alopecia bis mir in den Sinn kam der AAD auf Facebook beizutreten. Wenige Wochen nach dem Beitritt in dieser Gruppe haben die ein Foto von einem ersten Treffen in der Schweiz geteilt. Und so lernte ich Romina Rausch kennen, die Gründerin dieser Internetseite. Wir verstanden uns auf Anhieb und sie war die erste Person, der ich meine ganze Geschichte erzählte und die ganz genau wusste, was in mir vor ging. Sie erzählte mir von ihrer Idee mit dieser Internetseite und dass sie aber noch niemand habe, der Interviews mit Betroffenen machen würde. Ich fühlte, dass das etwas sei, das mir gut tun würde. Und da sitze ich. Nach Priscilla’s und Isabel’s Interview schreibe ich nun mein eigenes.

Im Schreiben habe ich nun die grösste Heilung gefunden. Im letzten Sommer wagte ich ein letztes Aufbäumen und ging zu einem Endokrinologen, der mir Hormone verschrieb. Als ich später nach Hause kam, fühlte ich, dass ich diese Hormone nicht nehmen wollte. So kompetent umsorg ich mich auch fühlte – ich konnte nicht. Bis ich der Sache auf den Grund ging und wusste, warum ich sie nicht nehmen wollte: Es ging nach dem Ende der Reise lange bis ich mich wieder wohl in meiner Haut fühlte. Einen weiteren fehlgeschlagenen Therapieversuch will ich nicht riskieren. Ich weiss nicht, ob ich die Enttäuschung noch einmal so gut wegstecken könnte. Man liest so viel und verlässt sich auf ganzheitliche Therapien doch selten brachten sie Besserung für meine Haare. Man stellt die Ernährung um, man fängt mit Yoga an, man verzichtet eine Weile auf Alkohol doch nichts brachte für mich eine massive Veränderung bezüglich der Haare. So hörte ich auch mit einigen Sachen wieder auf, weil ich sie als Einschränkung meiner Lebensqualität empfand. Und ich bin froh dass ich mich dazu entschlossen habe, die Hormone nicht zu nehmen. Ich habe schon viel zu viele Therapien gemacht von denen ich im Vornherein schon wusste, dass sie meinem Körper und meinem Gemüt schaden würden. Dieses Mal liess ich mich nicht von Ärzten drängen.

Wenn man von Alopecia betroffen ist, macht bringt das nicht nur in deinem Innern alles dazu sich neu zu ordnen, sondern auch in deinem Umfeld. Ich hatte das unsägliche Glück mit einem Umfeld gesegnet worden zu sein, wie man es sich nur wünschen kann. Es ging zwar ein Weilchen bis sich meine Familie mit meiner Glatze arrangierten. Ich merkte aber irgendwann, dass es sie nicht störte, weil es nicht ästhetisch sei, sondern weil sie glaubten, dass ich mich so unwohl fühlte. Bis ich ihnen klar gemacht habe, dass dem nicht so sei. Nun kann auch meine Schwester mir über den Kopf streichen und mein Vater mir einen Kuss auf den Kopf geben.

Als Teenager stellte ich mir manchmal vor, wie eine Fee mich wieder an jenen Abend zurück zauberte, als meine Mutter das Loch fand. Ich stellte mir vor, wie sie mich fragen würde: «Laura du weisst, was nun kommen wird. Willst du alles nochmals so durchmachen wollen?» Ja ich will. Denn durch all diese Erfahrungen habe ich gelernt, wer du zu deinem Leben zählen sollst und wer nicht. Ohne diese Krankheit hätte ich das viel später oder nie erfahren. Leute, die dich fallen lassen oder dich ändern wollen, weil du nicht in das Gesellschaftsbild passt, kann man getrost liegen lassen. Die wirklich wichtigen Menschen sind die, die noch immer in meinem Leben zu finden sind. Und diese Erfahrung will ich um nichts in dieser Welt missen wollen.

Zum Abschluss – Was würdest du künftigen Alopecia Betroffenen raten, Laura?

Vertrau darauf, dass du ganz genau weiss, was gut und was schlecht für dich ist. Hole dir Hilfe von denen Menschen, die dir gut tun und vertraue darauf, dass sich alles zum Guten wenden wird. Gib dich nie den Stimmen von Aussen hin, wenn dein Inneres, also dein Wohlbefinden, deine Erfahrungen, dein Körper, dir etwas anderes sagt.